Die Häftlinge wurden hinsichtlich des Arbeitsprozesses von zivilen Arbeitern der Siemens & Halske AG überwacht. Bewacht und gemaßregelt wurden sie durch SS-Aufseherinnen.
„Für jede Werkhalle war ein ziviler Meister zuständig, dem zwei bis drei Zivilarbeiter unterstellt waren. Zur disziplinarischen Aufsicht war jeweils eine SS-Aufseherin des KZ abgestellt. Dies galt zumindest bis November 1942“ (Strebel, 394). Die Zahl der Aufseherinnen wurde allmählich knapper, weshalb die SS Siemens vorschlug, weibliches Personal zum Übertritt in den SS-Aufseherdienst zu bewegen. Zumindest offiziell weigerte sich Siemens dies zu tun, inoffiziell legen Dokumente nahe, dass Siemens über Umwege selbst Aufsichtspersonal rekrutiert hat (Strebel, 396ff).
Aufseherinnen und Zivilarbeiter erwarben sich „schon allein deshalb einen „anständigen“ Ruf, wenn sie auf Beschimpfungen, Schikanen und Meldungen an die Aufseherinnen verzichteten, den Häftlingen vielleicht sogar Nahrung zusteckten oder Nachrichten zukommen ließen“ (Strebel, 401). Auch trug vermutlich eine Art Gleichgültigkeit gegenüber den Häftlingen zu einer passiven und im Vergleich zum Hauptlager als angenehm empfundenen Haltung bei (ebd.).
Gegen Ende des Krieges, als sich die Niederlage des NS-Regimes immer mehr andeutete, verbesserte sich die Stimmung zwischen Zivil-, Aufsichtspersonal und Häftlingen zusehends. Margrit Rustow berichtet von einem Siemens-Arbeiter, der mutmaßte „wenn ihr rauskommt, kommen wir rein“. Vermutlich erhoffte man sich durch Besserbehandlung der Häftlinge ein entsprechendes Verhalten der Gegenseite, nach dem absehbaren Ende des Lagers (Strebel, 401).
„Und in der letzten Zeit gab es ja sehr viele Änderungen bei den Aufseherinnen. Viele kamen, viele gingen, ne. Einige blieben nicht lange, sie wurden hier ausgebildet, blieben mit uns eine Woche oder so, und gingen dann, wurden weiter, irgendwo weiter verschickt.“
– Interview mit Margarete Becker vom 05.11.1993, Loretta Walz Archiv
Strafen und Schikanen
Wurde die Arbeit nicht mit höchster Konzentration, Präzision und verlangter Produktionszahl gefertigt, erhielten die Häftlingen im Siemens Betrieb eine häufig unbegründete oder ungerechtfertigte Strafe, diese konnten sein: brutale Schläge, wochenlanger Essensentzug, stundenlanges Strammstehen oder Demütigungen.
„lm Gegensatz zu freien Arbeitskräften durften die Siemenshäftlinge nicht austreten, wenn sie dazu das Bedürfnis hatten. Es gab bestimmte Austretzeiten, während deren die Häftlinge reihenweise herausgehen konnten. Da fast alle Häftlinge infolge dauernder Erkältung und als Folge der unzureichenden Ernährung Blasenleiden oder chronischen Durchfall hatten, führte dieses zu einer furchtbaren, quälenden und demütigenden Tortur. Ein besonders krasser Fall: ein Häftling fleht die Aufseherin an, außer der Zeit auf die Toilette gehen zu dürfen. Sie erhält die Erlaubnis nicht. Sie muss sich beschmutzen (Durchfall). Sie muss erneut auf die Toilette, sie bittet erneut um Erlaubnis. Wieder ein ,,nein“. Darauf geht sie in die Heizungsanlage der Halle und setzt sich dort auf einen Kohleneimer, zieht sich dort ihre Hosen aus. Der Meister Lombacher kommt dazu. Er ruft die Aufseherin, damit sie die „Missetäterin“ bestrafe. Er steht dabei, wie sie der Frau, die mit hochgehobenen Röcken verschmutzt dasteht, die schmutzigen Hosen ins Gesicht schlägt!“
– Rita Sprengel, * 1907, Deutsche; Siemens: November 1942 – Oktober 1944, Halle 2
„[…] Ein Teil der Häftlinge bekam von zu Hause Pakete, deren Inhalt sie mit auf die Arbeit nahmen und in die Schublade ihres Arbeitstisches legten, da sie diese Sachen nicht während ihrer Abwesenheit im Lager lassen konnten, es wurde leider soviel gestohlen. An einem der nächsten Tage mussten sie dann feststellen, dass auch diese Sachen, wie Seife, Kamm, Spiegel, Wäsche und auch Schuhe von diesem als sicher erwogenen Platz verschwunden waren. Die Hallenmeister des Fg. Werkes hatten nach Fabrikschluss Kontrolle gemacht und alles in die Heizung geworfen, wo die Häftlinge trotz Bitten ihre Sachen nicht zurück bekamen, sondern alles verbrannt wurde. lm Gegenteil, man drohte noch mit Meldungen, da wir wissen mussten es sei verboten, irgendwelche Sachen in die Fabrik mitzubringen, wir aber wiederum keinen sicheren Aufbewahrungsort hatten.“
– Inge Wodrig, * unbekannt, Deutsche; Arbeitsbeginn bei Siemens unbekannt, Halle 8
„[…] Ich arbeitete in der Halle 2 an einem Gerät und wickelte einen dünnen Draht auf kleine Spulen. Unsere Arbeit wurde von zivilen Meistern kontrolliert. Und wenn sie bemerkten, dass wir schlecht arbeiteten, dann meldeten sie das der Aufseherin. Die Aufseherin schrieb die Lagernummer auf und gab die Meldung an das Lagerbüro weiter, damit dort die Strafe angeordnet wurde. Die Strafe war folgende: Während die Kolonne zum Mittagessen marschierte, musste die Bestrafte vor dem Büro von Frau Binz ohne Mittagessen stehen. Und wenn die Kolonne vom Mittagessen zurückkehrte, ging die Bestrafte hungrig zur Arbeit. Eine ganze Woche erhielt man kein Mittagessen.“
– Vallentina Bugajewa, * 1924, Sowjetunion / Ukrainerin; Arbeitsbeginn bei Siemens unbekannt, Halle 2
„Da passierte folgendes: wir bekamen zum Mittagessen eine Rübensuppe, die man nicht essen konnte, weil sie so holzig gewesen war, daß sie einem im Hals stecken geblieben war. Eine Deutsche […], brachte mir eine Kiste Relais zum kontrollieren. […] Sie hieß Anni und war ein sehr netter Kerl. Sie stellte mir die Kiste zur Kontrolle her, gab mir ein Stück Holz und sagte, daß dies nach dem holzigen Mittagessen die Nachspeise wäre und lächelte. ln diesem Moment kam die SS Aufseherin und begann, sie zu schlagen. Die Aufseherin fragte mich, warum wir gesprochen hatten. lch antwortete ihr, daß wir nur dienstlich gesprochen hatten, weil ein Relais nicht ganz in Ordnung wäre, daß sie es nicht ganz hingebracht hatte. Sie wollte auch mich schlagen, aber ich hielt ihre Hand ganz fest. Da kam der Chef, der Abteilungsleiter, Herr Brimer und fragte, was denn da los wäre. lch erklärte Herrn Primo alles, worauf die Aufseherin mich losgelassen hatte. Über die Deutsche hatte sie aber Meldung gemacht, und sie hatte 25 Schläge auf den Arsch gekriegt. Zwei Wochen lang konnte sie weder sitzen noch liegen, die Arbeit mußte sie im Stehen verrichten.“
– Lisa Kammerstätter, * 1906, Österreicherin; Siemens: etwa ab November 1942, Halle 3, zweite Halle unbekannt
„Einmal musste ich zur Nachtschicht gehen, meine Zähne taten aber unerträglich weh. Die Mädchen rieten mir, in der Baracke zu bleiben, da fast keine Kontrollen waren. Trotzdem merkten die Meister, dass ich nicht da war und meldeten es dem Lagerführer. Der kam am nächsten Morgen in die Baracke, rief mich und fragte, warum ich nicht arbeiten gegangen sei. lch sagte ihm, dass meine Zähne so stark schmerzten, dass ich nicht arbeiten können werde. Dann gab er mir einen furchtbaren Stoß und sagte, dass das überhaupt keine Schmerzen wären, und schlug mich derart, dass ich ganz blutunterlaufen war. Danach jagte er mich hinaus, wo ich bis zum Abend rings um die Baracken aufräumen musste, danach musste ich zur Nachtschicht in die Fabrik.
Es war Februar, als ich mir in der Fabrik heimlich auf den Rohren ein Stück Unterwäsche trocknete.
Das war jedenfalls streng verboten. Trotzdem trockneten wir dort so manches Stück. Ich hatte Pech, die Aufseherin erwischte mich und meldete mich dem Lagerführer, der mich ins Hauptlager schickte, wo ich von sechs Uhr früh bis acht Uhr abends zur Wand gekehrt stehen musste, unbeweglich und ohne Essen. Es war sehr kalt, und es wehte ein eisiger Wind. Total erschöpft kam ich am Abend in die Baracke zurück. Es ist schwer in Worte zu fassen, wie ich damals überlebte.“
– Jožica Fajdiga (geb. Benčič), * 1926, Slowenin; Siemens: September 1944, Halle unbekannt
„[…] Als erste war eine junge Belgierin an der Reihe. Die Aufseherinnen rissen ihr die Unterwäsche vom Leibe und wiesen siegessicher auf die Dichtungsringe.
Die Belgierin versuchte zu erklären, dass sie gezwungen war, sich so zu behelfen, und blickte angewidert auf den Nazi. Der aber warf sich auf sie und schlug sie, wie es gerade traf. Das Mädchen richtete sich immer wieder auf und blickte ihn mit unbeschreiblicher Feindschaft an. Er warf sie zu Boden und trat sie mit seinen blitzenden Stiefeln. Ihr Gesicht war in Kürze blutüberströmt. Sie muckte nicht, weshalb sie ihr Peiniger noch mehr traktierte und noch wütender wurde.
Mit Micka standen wir in der Mitte der Kolonne und sahen alles, dass sie die Dichtringe suchten, wir zogen schnell die Ringe heraus und, ich weiß nicht mehr wie, versteckten sie. Daher fanden sie bei uns und jenen, die es ebenso taten, keine Bänder. Wir erhielten aber alle kräftige Ohrfeigen. Die Belgierin sah ich danach nicht wieder. Man sprach davon, dass sie ins Mutterlager versetzt worden war. Sie hatte für uns alle bezahlt.“
– Marija Šavli, * unbekannt, Slowenin; Siemens: etwa ab Herbst 1944, Halle 5
„[..] Als wir ins Lager zurückkamen, wieder Sammeln und der Befehl: Weil wir zu wenig gearbeitet haben und uns ungebührlich aufgeführt haben, einen Tag Fasten, einen Tag ohne Essen! Ein neuer Schlag, um uns gefügig zu machen. Da hatten sie sich in uns geirrt. Stolz schritten wir in die Baracken, womit der Sieg unser war. Für die schwachen Kameradinnen hatten wir noch etwas Gebackenes, wir anderen mussten ohne etwas aushalten. Und wir hielten aus.“
– Erna Muser, *1914, Slowenin; Arbeitsbeginn bei Siemens unbekannt, Halle 8
„[…] Jedes Nachlassen der Aufmerksamkeit führte zu Fehlleistungen, die bei der Kontrolle festgestellt wurden und für die der ‚verantwortliche’ Häftling zur Rechenschaft gezogen wurde. Solche Fehler führten in jedem Fall zu Schimpfereien, ohne oder mit Hinzuziehung der SS – zum Teil Schimpfereien in übelster Form und in übelsten Ausdrücken. Sie konnten und haben aber auch zu ‚Meldungen’ wegen Sabotage geführt. Diese Meldungen brachten Bunkerstrafen ein, Strafrasur oder Strafblock. Die Siemensvorgesetzten waren über die Bedeutung insbesondere der Bunkerstrafen informiert. […]“
– Rita Sprengel, * 1907, Deutsche; Siemens: November 1942 – Oktober 1944, Halle 2
„[…] Es waren auch manche Frauen bestraft, wenn sie nicht richtig gearbeitet haben. Sie wurden vielleicht entlassen und kamen auf irgendein Kommando, wo es für sie viel, viel schlimmer war. […]“
– Irma Trksak, * 1917, Österreicherin; Siemens: Ende Oktober 1942 – Januar 1945, Halle 3, dann Stubenälteste im Siemens Betrieb
„[…] Plötzlich hörte ich hinter meinem Rücken ein lautes, gemeines Schimpfen. Roh schlug er {Befehlshaber des Siemenslagers} mit den Fäusten auf eine 50 jährige Französin ein. Ihr ganzes Gesicht war schon mit Blut überströmt. Danach jagte er sie zur Wasserleitung. „Sabotageschwein! Wasch dich!“ Er hatte sie deshalb geschlagen, weil sie nicht arbeitete. Er wartete auf sie in der Mitte der Baracke. Als sie zurückkam, begann er sie erneut zu schlagen, als Abschreckung für die anderen, bis sie zusammenbrach. Zweimal gab er ihr mit dem Stiefel einen Fußtritt, worauf er befahl, eine Trage zu bringen. Zwei Kameradinnen brachten sie ins Mutterlager. Zurück kam sie nie. […] Vor dem Eingang in unser Lager stand auf einem Tisch ein Häftling. Um den Hals hatte sie ein Schild mit der Aufschrift: „Ich habe gestohlen“ gehängt. Sie war schon fast ganz eingeschneit. Unter den zerzausten Haaren sah ein blutunterlaufenes und mit Blut beschmiertes dunkles Gesicht hervor. Die Arme waren tot, hingen leblos am Körper herab. Es war abzusehen, daß sie bald zusammenbrechen würde. […] Als sie in die Küche wegen der Kübel kam, hatte sie eine Kartoffel genommen. Auch sie kehrte niemals zurück.“
– Vida Zavrl, * unbekannt, Slowenin; Arbeitsbeginn bei Siemens unbekannt, Halle 8
„Ich hatte eine sitzende Tätigkeit, aber es gab Häftlingsfrauen, die den ganzen Tag an der Maschine standen. Schläge waren dort an der Tagesordnung. Die SS-Aufseherinnen schlugen mit der Hand, mit einem Knüppel, manchmal eine Eisenstange, eine Kameradin wurde derart zusammengeschlagen, dass sie das Bewusstsein verlor. Wir mussten sie in das Lager zurücktragen.
Die Zivilarbeiter schlugen uns wegen jeder Kleinigkeit, wegen „Frechheit“, wegen eines Arbeitsfehlers und bei jeder sich anbietenden Gelegenheit. Außerdem gab es Strafen bei denen Frauen stundenlang draußen im Regen stehen mussten. Ich selbst musste ein paar Mal, bis zu vier Stunden, Strafestehen. Man musste Strammstehen, aber die Aufseherinnen achteten nicht besonders darauf.
[…]Betreffend der Arbeit möchte ich hinzufügen, dass man sehr schnell der Sabotage beschuldigt werden konnte. Es genügte einen kleinen Präzisionsschalter, der sehr empfindlich war, unvorsichtig anzufassen, gleich gab es Schläge. In schweren Fällen wurde eine Frau gehängt. […]“
– Janina Pawlak, * 1914, Polen; Siemens: April 1942 – November 1944, Halle unbekannt
Literatur:
- Feldenkirchen, Wilfried: Siemens. Von der Werkstatt zum Weltunternehmen. München 2003.
- Jacobeit, Sigrid: Arbeit für Siemens in Ravensbrück. In: Eichholtz, Dietrich (Hg.): Krieg und Kriegswirtschaft: Studien zur deutschen Wirtschaftsgeschichte 1939-1945 Berlin 1999, S.157-170.
- Krause-Schmitt, Ursula: Der Weg zum Krematorium führte am Siemenslager vorbei. – Ravensbrückhäftlinge als Zwangsarbeiterinnen bei Siemens. In: Informationen-Studienkreis: Deutscher Widerstand. Frankfurt am Main 1993, S. 38-46.
- Strebel, Bernhard: Das KZ-Ravensbrück. Geschichte eines Lagerkomplexes. Paderborn 2003.