Kontakt zu Zivilisten, Zivilisten folgen Befehlen, Halle 8
„[…] Kontakte zwischen den deportierten Frauen und Zivilpersonen ergeben sich nur während der Arbeitsstunden und unter rigoroser Einhaltung der hierarchischen Rangfolge. So kommen die Siemens-Arbeiterinnen beispielsweise nur mit dem oder der Abteilungsleiter oder -leiterin in Kontakt, und nur aus gewichtigem, arbeitsbedingtem Anlass. Normalerweise ist die Bande rouge dafür zuständig, zwischen den beiden Kategorien zu vermitteln, sei es um die Arbeit zu verteilen, sei es, um Fehlende festzustellen, sei es, um Beobachtungen zu notieren. […] Der Zivilist führt bloß die Befehle aus, die er von seinen Vorgesetzten erhalten hat: er bringt die Fakten zur Anzeige und wäscht als guter Pilatus gleich danach seine Hände in Unschuld, weil der Fall nicht mehr in seine Zuständigkeit fällt. Es spielt keine Rolle, ob die Sklavin mit fünfundzwanzig Peitschen- oder Stockhieben bestraft wird, ob mit Erschießung, Entlassung oder Selektion; für ihn ist lediglich wichtig, dass er das Reglement befolgt hat. Die Zivilpersonen, die in der Fabrik arbeiten, halten sich peinlich genau an die Regeln […].“
– Lidia Beccia Rolfi, * 1925, Italienerin; Siemens: Oktober 1944 – April 1945, Halle 8
Ingenieur oder SS-Mann?
„[…] An diesem zivilen Ingenieur war ein SS-Mann verlorengegangen. Er scheute nicht davor zurück, ‚arbeitsunwillige‘ Häftlinge bei der Aufseherin anzuzeigen und eine Meldung zu verlangen. […] Für ihn schien festzustehen, dass Häftlinge keine Menschenrechte zu beanspruchen haben. […]“
– Magarete Buber-Neumann, * 1901, Deutsche; Siemens: ab Winter 1942/43, Halle 1
Angeekelt, Nette Zivilistin
„[…] Es kam vor, dass wir im Lager kein Wasser hatten, also ungewaschen zur Arbeit kamen. In den meisten Fällen wurde nicht erlaubt, sich ein wenig zu waschen; erst als dieser Zustand ein paar Tage anhielt, wurde uns gestattet, Hände und Gesicht unter der Leitung abzuspülen, aber nicht etwa um uns damit entgegen zu kommen, sondern nur weil sich die Zivilisten vor uns ungewaschenen Häftlingen ekelten, wie sie sich ausdrückten. […] Es gab auch Zivilarbeiter, die sich sehr anständig und menschlich uns Häftlingen gegenüber benahmen, nur durften sie es nicht merken lassen, da ihnen bei jeder Versammlung angedroht wurde, sie selbst würden in K.Z. kommen, wenn sie sich privat mit den Häftlingen, die Volksschädlinge sind, unterhalten. […]“
– Inge Wodrig, * unbekannt, Deutsche
Meister Krszork
„Meister Krszok war Zivilist, aber ein eingefleischter Nazi. Die inhaftierten Frauen behandelte er grob und schroff. […] Bald bemerkte ich aber, dass es ihm nicht so sehr auf die Arbeit ankam als vielmehr darauf, dass er nicht an die Front musste und den Krieg in der Heimat überstehen konnte.“
– Gusta Fučiková, * unbekannt, Tschechin; Siemens: ab September 1943, Halle 8
Keine Bestrafung
„[…] In Wirklichkeit erfolgte die Bestrafung nie, auch weil der Meister, der uns bewachte, ein Zivilarbeiter deutsch-französischer Herkunft war, der diese Sprache auch beherrschte; der andere war Meister Strauss, an den ich mich immer erinnere, weil er sich mit mir und meiner Schwester immer bestens verstand. ,,Zwischen Paganini und Strauss muss man sich wohl verstehen“ sagte er. Mit ihm, der nur deutsch sprach, verstanden wir uns mit ganz wenigen Worten und er hat uns mit Gesten beigebracht zu reparieren, zu justieren, die lnstrumente zu zerlegen und zusammenzubauen, die wir herstellten mussten: er zeigte uns wie man die Arbeit macht und wir wiederholten seine Gesten. Wenn etwas nicht funktionierte, riefen wir ihn und er half uns.“
– Bianca Paganini, * 1922, Italienerin; Siemens: November 1944 – April 1945, Halle 21
Nette Vorbarbeiterin
„Ich hatte das Glück, Frau Hintze, eine von den netten, als Vorarbeiterin zu haben, Sie brachte uns oft etwas zu essen mit oder kümmerte sich um unsere Post, indem sie sie mit nach Berlin nahm und sie dort in den Kasten steckte. Das war eine besonders große Hilfe für uns.“
– Bianca Paganini, * 1922, Italienerin; Siemens: November 1944 – April 1945, Halle 21
Humaner Mensch
„Ich und meine Freundinnen in unserem Arbeitsbereich hatten Glück, denn unser kahlköpfiger und gebeugter Meister Alfred Nitschke, ein Berliner und Vater zweier Kinder, war ein humaner Mensch. Er hat uns kaum beobachtet. Er hat sogar uns gewarnt, wenn die Aufseherin, die den ganzen Tag auf dem Gang in der Mitte der Halle auf und ab ging, in der Nähe war. Manchmal konnten wir versuchen, während wir lang mit den deutschen Meisterinnen diskutierten, auf verschiedene Art die Einzelteile zu beschädigen, also Sabotage betreiben, aber vorsichtig natürlich. Meister Nitschke berichtete einigen von uns sogar über das Vorankommen der Roten Armee in Richtung Westen.“
– Marija Jacenko, * unbekannt, Sowjetunion / Ukrainerin; Arbeitsbeginn bei Siemens unbekannt, Halle 4
„Ich arbeitete in einem Hallenbüro. Ich mußte angefertigte Werkstücke eintragen und graphische Darstellungen anfertigen. Mein unmittelbarer Vorgesetzter war ein Zivilangestellter namens Gerstenberger, ein alter Sozialdemokrat, der uns versicherte, daß er unter ähnlich schlechten Bedingungen in einer Baracke in der Nähe leben mußte. Er war hierher strafversetzt worden. Er tat für uns, was er konnte. Gelegentlich stahl er Kartoffeln und gab uns von seinem Brot ab. […] Unser oberster Chef hieß Grade. Ich habe ihn später suchen lassen‘ aber nicht gefunden. Ein ausgesprochener Menschenschinder. Wenn sich eine Frau vor Schmerzen krümmte, ging er mit einem Stock auf sie los und hat so lange geschlagen, bis sie auf ihren Schemel zurückkroch. Wenn einer Kameradin, die feinste haardünne Drähte auf Spulen wickeln mußte, der Draht dreimal riß, wertete er das als Sabotage. In solchen Fällen wurden die Häftlinge beseitigt.“
– Johanna Sohst, * 1915, Deutsche „Halbjüdin“; Siemens: Sommer 1944 – April 1945, Halle 2
Die Überlebende Lidia Beccaria Rolfi berichtet über ihre Begegnung mit einer zivilen Aufseherin:
„[…] für mich die erste Frau seit meiner Ankunft im Lager, die weder Deportierte ist noch zur SS gehört. Die Zivilistin, Fräulein Masalski, hat die Funktion der Abteilungsleiterin inne, und theoretisch soll sie mir die Arbeit zeigen, aber sie hat keine Lust, einer verlausten Person nahe zu kommen. […] Als die im Sicherheitsabstand vorgenommene Vorführung beendet ist, kehrt Fräulein Masalski an ihren Platz zurück, verliert ihr Interesse an mir und lässt mich ihre blitzschnelle Vorführung allein in die Tat umsetzen.“
Weiterhin berichtet sie über die ihr widerfahrene Schikane einer SS-Aufseherin und die Reaktion einer Zivilaufseherin:
„[…] aber es kommt vor, dass die Aufseherin ihren Spaß daran hat, einer ihr nicht genehme Deportierte zu triezen. Und die Aufseherin aus meiner Halle ruft mich grinsend regelmäßig heraus und schickt mich zum Kohleabladen, während die Zivilarbeiterin sich raushält und sie gewähren lässt, obwohl sie unter dem Vorwand, dass sie meine Arbeit braucht, durchaus intervenieren könnte.“
– Lidia Beccia Rolfi, * 1925, Italienerin; Siemens: Oktober 1944 – April 1945, Halle 8
Paganini über einen zivilen Siemensmitarbeiter in Halle 21:
„[…] Meister Strauss, an den ich mich immer erinnere, weil er sich mit mir und meiner Schwester immer bestens verstand. „Zwischen Paganini uns Strauss muss man sich wohl verstehen“ sagte er. {168} […] er hat uns mit Gesten beigebracht zu reparieren, zu justieren, die Instrumente zu zerlegen und zusammenzubauen, die wir herstellen mussten: er zeigte uns wie man die Arbeit macht und wir wiederholten seine Gesten. Wenn etwas nicht funktionierte, riefen wir ihn und er half uns.“
– Bianca Paganini, * 1922, Italienerin; Siemens: November 1944 – April 1945, Halle 21